André Schinkel, Schriftsteller und Archäologe
Anhaltische Galerie Dessau, am 11. März 2017
Lieber Frank, meine Damen und Herren –
in Zeiten, da man von gefönten Wolkenkuckucken regiert wird, ist es gut sich zu besinnen, wenn auch nicht zu lange. Dann möge man aufblicken und sehen. Zum Sehen, meine Damen und Herren, sind wir heute bestellt – um die neue Schau eines Künstlers in Augenschein zu nehmen, hier, in der schönen und gebeutelten und am Zusammenlauf zweier der wichtigsten mitteldeutschen Flüsse wohnhaften Stadt Dessau, die ja mittlerweile, wenn man unaufmerksam hinschaut, ein Teil von Roßlau ist oder umgekehrt oder überhaupt. Aber das ist auch egal.
Wichtig ist, daß solche Dinge hier stattfinden, und der Kursachse mit Mulde- und Bitterfeld-Erfahrung in mir sagt, daß es davon, hier im Welterbedreieck, noch viel mehr zu geben hat. Es ist auch nicht von ungefähr, hier den malerischen Abdruck eines Künstlers zu vernehmen, der als gebürtiger Mansfelder aus einer ähnlich mitgenommenen Landschaft stammt und als Wahl-Leipziger heute aus der am ehesten leuchtenden all dieser geschundenen Städte zu uns kommt. Ja, es ist eine Freude zu sehen, wie sich der Kreis der Kunst Frank Hauptvogels auch in Dessau-Roßlau öffnet und uns mit auf das „Plateau“ seiner Kunst nimmt. Hier, an der Mulde, die sich draußen mit der Elbe vereint, will ich das ein Ereignis nennen, das in beide Richtungen, des Künstlers wie der Doppelstadt, fällt.
Frank Hauptvogel, der zur neuen Generation dessen zu zählen ist, was gemeinhin unter dem Begriff „Leipziger Schule“ bekannt wurde und auch Furore machte und in die Kunst der Gegenwart weit hineinwirkt, ist als Schüler und Meisterschüler Arno Rinks dem Maß und der Freiheit zugleich verpflichtet. Seine real-surrealen Dioramen, Di- und Triptychen in Öl und Acryl, seine Zeichnungen und Aquarelle sind von einer meisterlichen Kraft und Tiefe, daß es einen oft ‚schubbert‘ … und daß man sich angesichts der Aufregung bei der Betrachtung dieser Bilder auch als Schwanker dem Glauben an die Kunst nicht erwehren kann.
Nicht von ungefähr mag uns das Schlußwort diverser Ratloser zu den Gebresten der, ach, aufgeklärten Zeitebene, in der wir uns befinden, immer wieder aufstoßen, in diesen Tagen zumal, wenn uns die allgemeine, postfaktisch befeuerte Ratlosigkeit nach besser echtem denn trügerischem Halt suchen läßt – „Wehe uns!“ Ja, dieser Ausspruch, er wird nun konterkariert von den zarten Verheißungen eines nun von der dritten Flut, der Luther-Welle, heimgesuchten Landstrichs von Frühaufstehern. Denn wenn auch ambivalent und in diesem Jahr wohl und wahrscheinlich an die Erbrechensgrenze der marktschöpferischen Öffentlichkeit geführt, nichts anderes ist Luthers Werk in seinen menschgewandten Facetten denn Aufklärung weit vor dem Aufkommen des Begriffs. Das möge man nicht nur hier, in der unmittelbaren Nähe seines Wirkens, spüren und wissen.
Dieses „Wehe uns!“, am eindrücklichsten übrigens am Ende einer Kritik zu Wolfgang Hilbigs – auch er stammte aus einer mitgenommenen Stadt, die schwierig um Anwesenheit ringt – wohl rabiatester Erzählung „Alte Abdeckerei“ von Marion Titze, soll uns aber nicht verzweifeln lassen. Nicht heute und auch trotz seines perfiden Hervorlugens aus allen Dingen, die heute in mittleren Ebenen kreisen. Denn es ist ja immerhin gelungen, diesen Maler hierher zu holen und ihm Raum zu geben für seine Visionen, Sichtungen, Träume und Blicke. Ein weitgespannter Kosmos mit einer auffälligen zentralen Enge der Hauptfiguren ist dies, die Gebärden und Äußerungen oft in Schweigen, dunklem Staunen, eine Geworfenheit in ein Äon, das weder gläsern noch samten ist, auch wenn es diese Aspekte gleichsam anreißt. Diese gefüllten, inszenierten Interieurs sind immer auch ein Innen- wie Außenbild in einem. Das Getriebensein oder auch das heftige Innehalten der Figuren bildet sich auf ihre Umgegend ab und umgekehrt.
Es ist nicht von ungefähr, daß uns wir auf einem Plateau des Staunens und Schauens, des Herausfindens und des Die-Lösung-um-ein-Haar-wieder-im-Rätsel-Verlierens verharren. Und es ist eine köstliche und doch auch schreckende, weil entlarvende Unterweisung der Augen, die Frank Hauptvogel anbietet und unternimmt. Und folgerichtig heißt die Dessauer Schau denn auch „Plateau“ nach einem der jüngsten und wichtigsten hier gehängten Bilder. Der wuchernde Reichtum in dieser Art gemalter Stille, die auch ein abgewürgtes Geschrei sein mag, reizt, frappiert, erschüttert und belebt die Synapsen. Und es geht ein leicht neben dem erwarteten Takt sitzender Sound durch die Gefilde. Ein vielleicht Schlüssel-Aquarell Hauptvogels heißt denn auch: „Etwas ist falsch“.
Entlarvtes, entlarvendes Verharren, Anklang des Hereinhängenden, Verhängnis und Wirbel, Schnappatmung im Katastrophengebiet, theatralische Geste. Der Mensch und die ihm beigesellten Wesen auf dem Plateau seiner Wünsche, seiner Verwirrung, seiner Enttäuschung … im Rücken der taktschnipsende Finger, das Gelächter, das – wird es sich ins Homerische steigern? – aus dem Marionettenjungen herausstemmt. In der Ferne die Blickbahnen dessen, die in die anderen Hauptvogel’schen Gegenden führn, genauso wie die surrealen Momente der verhüllten Figur am linken Rand, vom Mond eines Zauberwürfels umkreist. Ist es das Mirakulum des Menschlichen, das hier ein inneres Triptychon baut? Fürwahr. Es spiegelt sich zentromerisch mit den anderen Bildern des Meisters.
Von der trügerischen Schönheit der Dinge berichten diese Kunstwerke, die wir heute hier zu sehen bekommen, von den Reibflächen der Wesen, die zwischen ihnen leben, ihren Sehnsüchten an den verbrannten Stränden der Stadtränder und verheerten Ländereien. Es nimmt nicht wunder, im Angesicht des Durcheinanders, das diese Ära bietet, Sehnsucht nach Gärten, nach Hochflächen für den Rückzug, nach Plattformen für Aussicht und Urteil zu haben … Es ist der Weg dahin interessant für den Künstler, und so ist ein Großteil seiner Personage in ihrer Suchbewegung befangen – auf der Suche nach einem Traum, und fast nicht mehr denkbar, seiner Erfüllung in diesen halbherzigen Jahren. Wir befinden uns derart auf dem Weg, mancher unbeirrt, viele zaudernd und stockend.
Es ist eine treffliche Wahl, daß Frank Hauptvogels Kunst verstärkten Weg in die Öffentlichkeit nimmt. Mit hohem Strich führt uns der Künstler in eine, wie gesagt, reale wie surreale Welt, die einerseits von leuchtenden Farben, Geschichten geradezu prangt, andererseits die Abstiege in die inneren wie uns umgebenden Welten des Dunkels und Zweifels, vor deren Eingängen ein mahnendes wie wissendes Memento glüht, zeigt. In einer bis ins Feinste ausgeführten und doch energievollen Technik reißt er die Blicke des Betrachters heraus aus dem spätbarocken Speckkäferglanz der sich auflösenden Epoche.
Hauptvogels Malen und Zeichnen steht dabei in dieser großen und nachgerade als ungeheuerlich, weil nun eben als doppelsträngig erkennbaren Tradition, wie sie der sächsischen Malszene und dem Umkreis der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig entsprang und zu einem mitteldeutschen Phänomen wurde, das weit über die Region wirkte und wirkt. Zugleich zeichnet es ein Bild vom Erringen einer wuchtigen Selbstständigkeit, vom Erwachen in einer Landschaft, wie sie vor den Augen aufsteht und zerbröselt. So unterschiedlich die Wege der Vertreter dieser großen Bewegung der mitteleuropäischen Kunst der Gegenwart sind, so vehement sind sie alle im Zeigen ihrer Obsessionen, Sortiergaben und ihrem Hang zur bedeutenden Sprache. Es ist etwas Elementares, was von dieser über Leipzig und – mit Möhwald und Pfeifer – Halle weit hinausstreichenden Art der Weltdeutung ausgeht: das Ringen ums Große, die wahrhafte Geste.
So ist auch dem Ensemble, das Hauptvogel inszeniert, eines nach außen mitgegeben – die Suche nach echter Schönheit, wahrer Bewegung. Das ist eben nicht aufgesetzt, vielmehr ist dieser Versuch bis ins Verzweifelte durchexerziert, klappern Stäbe und Hardware der Puppen, die in diesem Werk eine ähnlich wichtige Rolle einnehmen wie Eselsköpfe, Narrenkappen auf den Leibern von verunglückten Philosophen und Liebeswerbern, um Anwesenheit in den Dioramen der Echtzeitauf- und -untergänge. Die Motive, sie sind willens, vom Blatt aufzustehen, sich aus der Leinwand zu reißen. Aufruhr, aber eben auch, nun doch, um der Stille wegen, sich einen Ausweg aus dem Chaos, auf dessen Fonds der Künstler seine Versuchsanordnungen durchführt, zu suchen, Veränderung.
Es ist die große Intensität der Hauptvogel’schen Sprache, die so beeindruckt. Gewissermaßen sind es die symbolträchtigen, oft halb aus Fleisch, halb aus Marionettenholz gebauten Figuren, die den Cyborg-Part dieser Bilder geben. Vor idyllischen, abdrehenden, grausig zerdepperten Landschaften wandeln sie auf der Suche nach Erlösung, Aufgehen im Anderen, nach Erwiderung, Aufstieg für bessere Sicht … was auch die Möglichkeit der Enttäuschung impliziert, worin sich aber auch eine Art Wunsch ausdrückt, Ruhe zu finden in der Brandung einer innen wie außen außer Rand und Band geratenen Epoche, nach wie vor.
Eine Kunst, die man unbedingt gesehen haben soll in dieser Zeit; und vielleicht wird Ihnen auch die Art der Dessauer Hängung, des Gesprächs der Exponate zudem eine Ahnung von der kraftfordernden Ambivalenz dieses rasenden wie kontemplativen Handwerks, vermitteln, das hier einen zentralen Altar findet. Bilder, zu denen man sich das „Stabat mater“ Arvo Pärts denken mag, Manfredini, Locatelli, einen an die Dinge gerührten Einaudi, aber auch Mendelssohn-Bartholdy, Chopin, die Ethno-Dramen von Dead Can Dance, die schwebende Wucht von Lisa Gerrards Gesang in „Yulunga“ oder „In The Kingdom Of The Blind The One-Eyed Are Kings“. Ein Traum wäre es, wenn wir heute zur Abwechslung unsere Einäugigkeit ablegen können, um beide Augen dabeihaben zu dürfen.
Die Pfade sind trügerisch, auch das weiß man vielleicht erst, wenn man sie begeht. Dennoch: Die Königreiche in den Seelen der Künstler, jene königlichen Gärten in den Wolken, über den Halden dessen, was für ein Bild sich der Mensch von den Dingen und der Welt gemacht hat, wer möchte sie nicht betreten. Hier nun ist dazu Gelegenheit, eine Auswahl davon in Augenschein zu nehmen. Es ist auch eine Retrospektive drei hoher Grade – Gabe, Handwerk und Fleiß – für die Kunst. Hauptvogel, der seit vielen Jahren freier Künstler ist, auch als Bühnenmaler sowie als Dozent an der Dresdner Kunstakademie tätig war, arbeitete vor seinem Studium an der HGB im Bergbau, beides hat Einfluß auf seine künstlerische und Seelenarbeit. Der gesamte Kosmos, durch den dieser Künstler geht, ist dabei nur angedeutet, wer die Internetseite Frank Hauptvogels kennt, bekommt eine Vorstellung von den inneren wie reellen Ausmaßen dieses Werks.
Für mich ist „Plateau“, in der mitteldeutschen Dreifachrepublik, eine Ausstellung zum Genuß eines von mir ersehnten Reichtums an Blicken, der Erschütterung zugleich. Es ist, daß die Kunst nicht unter sich und hinter sich gehen kann, nur aus sich und uns zu treffen und zu betreffen. Ich möchte das in allen und in den größten Räumen dieses Landstrichs sehn – den gewaltigen Triptychon „Haben und Sein“ etwa, die lädierten Puppenspieler mit ihren schweigend-expressiven oder beteuernd-expressiven Domestiken über den verbundenen Händen. Es sind, aus der Kraft ihrer Mischung aus Wucht, Realismus, einem darüber gereifelten magischen Realismus und Stille, die einen packt, eben auch Bojen, Leuchtzeichen aus dem Abgrund dessen, was quer mit uns läuft. Die Überwindung der Querhölzer in uns ist das Größte und ein hochgradiges Abenteuer in Vereinzelung und Gesellung zugleich. Es ist hohe Zeit, das zu sehen, zu erblicken.
Zum theatralen wie dramaturgischen Moment in den Gemälden und Zeichnungen Hauptvogels, ihrer Konstellation und Kulisse, hat sich Jule Reckow wie folgt geäußert: „Das Verhältnis zwischen Schauspiel und wahrhaftem Empfinden ist ein zentrales Thema im Werk des Leipziger Malers und Grafikers Frank Hauptvogel. Dafür kann der Impuls der Werke ein Traum oder Gedanke sein, dessen schemenhafte Welt es zu beleuchten gilt. Die Landschaftsgebilde sind nicht der Realität entnommen, sondern der Phantasie des Malers entsprungen. Nicht selten verweisen sie wie im Theater die Bühnenbilder auf Bevorstehendes oder unterstreichen die Stimmungen \[…] Die Landschaften sind die Weltbühne, auf der sich auch die Figur des Puppenspielers bewegt.“
Es sind dies Figuren, die angegriffen und versehrt ihren Dienst versehen, eine Art Wiederholungsschleife bedienen, den Schein wahren. Ihr Aufzug ist dabei oft genug Teil dieses Anscheins, Schutz, Bedeckung bis zum Verräterischen, an der Stelle nämlich, wo die Verkleidung die Not ihrer Träger verrät. Jule Reckow dazu weiter: „Zertrümmerte Figuren umgeben ihn, über ihnen hat sich der Himmel zugezogen. Es entsteht eine Endzeitstimmung, in welcher der Spieler sein Spiel aufgegeben hat. \[…] Die Menschen zeigt der Maler in Kleidung, die an Kostüme einer anderen Zeit erinnern. Kostüme, die womöglich den Anstand verraten, einer Gesellschaft gerecht zu werden und sich in festlicher Kleidung zu wahren. Doch in noch so feinen Stoffen kann man stürzen und zum Narren werden. Immer wieder scheint ein Ausbrechen in uferlosen Weiten schwer möglich zu sein. Die Menschen tragen eine Aufgabe in sich und folgen ihr beharrlich. Nicht selten, um sich vom Kummer abzulenken und ihre Sorgen zu kompensieren.“
Wahrlich, dieser Text ist wie seine Objekte eine Fundgrube an Blicken in die innersten Welten derer, die in die Zeit geworfen wurden. „Ein ewiger Kampf zwischen Ordnung und wilder Phantasie tanzt durch die Reihen. Doch nur mit der Ordnung lässt sich die Phantasie begreifen und nur mit der Phantasie die Ordnung ertragen. Es ist ein Widerspruch, der einen aufatmen lässt und all jene Gedanken erbaut, die nach den Träumen der Figuren fragen. Dabei sind Blicke suchend oder wartend, fordernd oder neugierig. Sie schleppen sich dahin, tanzen ein wenig oder bemühen sich, ihre Aufgabe nicht zu verlieren, um dem Kreislauf standzuhalten. Wohlwollend statt verurteilend erblickt der Betrachter die Figuren und erahnt manchmal ihr Scheitern. Doch im Bild verharrend bleibt das Warten gegenwärtig. Man bleibt geduldig und erblickt dabei das Allzumenschliche. In ihm verstecken sich die Wunder und der Zauber, mit der die Welt umspielt wird. Spricht man vom Surrealismus, so ist ganz nach dieser Wortschöpfung in den Bildern wahrlich etwas, das über dem Realismus zu schweben scheint.“
Ja, denn es ist auch eine ungeheure Schwebe, die in diesen Gemälden und Zeichnungen herrscht, bei aller Schwere. Und ein Rausch an Farbe und Farbkombinatorik. Aber das sagte ich, glaube ich längst. Lassen Sie mich dazu abschließend das Credo Tarkowskijs zitieren, es ist auch in der digitalen Präsenz den Arbeiten Frank Hauptvogels vorangestellt und unterstreicht, wie ich denke, die Ausführungen aufs Triftigste: „Die Kunst bekräftigt jenes Beste, zu dem ein Mensch fähig ist – also Hoffnung, Glauben, Liebe, Schönheit, Andacht oder das, was man sich erträumt oder erhofft. Wenn sich ein Nichtschwimmer ins Wasser stürzt, dann beginnt sein Körper, also nicht etwa er selbst, instinktive Bewegungen zu seiner Rettung zu machen. Auch die Kunst ist so etwas wie ein ins Wasser geworfener Menschenkörper – sie existiert als Instinkt, der die Menschheit im geistigen Sinne nicht ertrinken lassen will. Im Künstler manifestiert sich der geistige Instinkt der Menschheit.“
Lieber Frank, ich freue mich, Dich mit Deiner Kunst und Freundschaft in meiner Nähe zu wissen.
Und ich lade hiermit alle ein, sich diesem Künstler zu nähern.